Klaus Miklós Rózsa
Klaus Miklós Rózsa, geb. 11. September 1954 in Budapest
Frühes Trauma
Die Biografie, um die die Geschichte des Films gebaut ist, beginnt mit einem Trauma im Alter von zwei Jahren. Während des Ungarnaufstands 1956 traf eine sowjetische
Panzergranate die Wohnung der Eltern in Budapest. Die Wohnung brannte. Die Eltern waren nicht zuhause. Russische Soldaten brachten die Kinder in den Luftschutzkeller, wo sie wochenlang ohne
Tageslicht ausharren mussten.
Eigentlich hatten die traumatischen Verhältnisse schon vor seiner Geburt begonnen. Beide Eltern waren Opfer der Judenverfolgung in Ungarn, die Mutter überlebte knapp
einen Pfeilkreuzleranschlag, der Vater wurde deportiert und überlebte Auschwitz und Dachau. Als es elf Jahre später bei der Niederschlagung des Ungarnaufstands erneut zu Krieghandlungen kam,
befürchteten die Eltern, dass ihre beiden Kinder, Olga (damals sechs) und Klaus (zwei Jahre alt), Ähnliches erleben könnten, wie sie es erlebt hatten. Da entschlossen sie sich zur Flucht.
Limitierte Bewegungsfreiheit – häufige Konfrontationen
In der Schweiz blieb Klaus vier Jahrzehnte lang staatenlos, da seine Einbürgerungsgesuche, drei an der Zahl, allesamt aus politischen Gründen abgelehnt wurden. Er hatte
sich in den 70er-Jahren in der linken Opposition engagiert, später in den leitenden Funktionen der Gewerkschaften.
Da er als Staatenloser nicht frei reisen konnte, war sein Radius eingeschränkt. In seinem Beruf als Pressefotograf war dies ein Hindernis, das zur Folge hatte, dass er
allein deshalb auffallen musste, weil er ständig präsent war. Wer sich in einem engen Rahmen bewegen muss, fällt öfter auf als andere. Als Fotograf, der sein Brot an den Brennpunkten der
Auseinandersetzungen verdiente, fiel er vor allem in Zürich auf, wo es konsequenterweise umso öfter zu Konfrontationen mit der Polizei kam.
Klaus war derart präsent, dass es schon hiess: Klaus provoziere mit der Kamera die Polizei und müsse sich nicht wundern, wenn er Prügel ernte. Diese Reaktion war selbst
in seinen eigenen Kreisen anzutreffen. Immerhin war es eine linke Mehrheit im Zürcher Stadtrat, die beschloss, dass Klaus nach 40 Jahren Staatenlosigkeit immer noch nicht eingebürgert werden sollte.
Der sozialdemokratische Stadtpräsident Josef Estermann (vgl. u.) apostrophierte Klaus gar öffentlich als „Intimfeind“ (NZZ vom 24.01.1994, S. 27), ein Ausdruck voller Hass, der weit über eine
politische Gegnerschaft hinausführte.
Eine verantwortungsvolle Stadtregierung hätte aufhorchen müssen, als sie feststellen musste, dass es zwischen Klaus Rózsa und den Polizeibehörden immer wieder zu
Zusammenstössen kam. Stattdessen schränkte sie mit verlängerter Staatenlosigkeit den Radius weiterhin ein und zementierte damit die sich häufenden Konfrontationen.
Dass es zu Konfrontationen kam, hatte nebst oben erwähnten auch noch andere Gründen, gute und weniger gute.
Die guten Gründe dafür waren, dass Klaus sowohl mit der Kamera wie auch als Präsident der Journalisten-gewerkschaft für die Pressefreiheit kämpfte: Ein Journalist
sollte nicht weggewiesen, behindert oder gar zusammengeschlagen werden, wenn er die Polizei bei ihren Einsätzen fotografiert und im Sinne der vierten Gewalt kontrolliert. Das öffentliche Handeln der
Ordnungshüter darf in einer Demokratie nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Doch gerade dies entsprach den Vorstellungen der Behörden. In den Staatsschutzakten heisst es über Klaus
wörtlich: Er „hält Übergriffe der Polizei in allen Einzelheiten fest und behindert dadurch die Arbeit der Polizei.“
Der Wiederholungszwang
Die weniger guten Gründe für die vielen Konfrontationen liegen wohl beim Trauma. Die Psychologie spricht bei traumatisierten Menschen vom sogenannten
Wiederholungszwang. Erlebtes Unrecht wird immer wieder neu erlebt, um es zu korrigieren. Bei Klaus ist die Rede vom erlebten Unrecht der ganzen Familie, das er von den Eltern mitbekommen hatte, und
dem selbst erlebten in früher Kindheit. Diese Unrechtserfahrungen führten sozusagen seine Kamera immer wieder ganz nah an die Polizeiübergriffe heran, näher als andere Fotografen, die sich, etwa bei
Krawallen, jeweils soweit wie möglich von Klaus entfernten, weil, wie ein Berufskollege es einmal ausdrückte, „die Gummigeschosse und das Tränengas immer dorthin flogen, wo Klaus stand.“
Ich habe das behandlungswürdige Trauma von Klaus aufgezeigt, aber es im Film nicht benannt, weil ich ja nicht Psychologe, sondern Autor bin. Ich wollte jedoch die
Grundlagen dafür liefern, dass die Biografie von Klaus auch Behandlungswürdiges unserer zivilisierten Gesellschaft denunziert.
Unrechtmässige Verhaftungen, gefälschte Beweise
Hinzu kam, dass er während der Zürcher Jugendunruhen der Achtzigerjahre nicht nur mit der Kamera unterwegs war, sondern als Aufständischer selber zum Megaphon griff.
Deshalb wurde er 1980 zusammen mit fünf anderen Jugendlichen als „Rädelsführer“ präventiv verhaftet – einmal mehr zu Unrecht mit relativ hohen Entschädigungsfolgen für den Staat.
Mehrmals versuchte ihn die Justiz mit gefälschten Beweisen oder falschen Zeugenaussagen zu verurteilen. In einem Fall mit einer Fotomontage, die Klaus mit einer
Baulatte in der Hand zeigt. Als der Anwalt die Akten anforderte, um ein Verfahren gegen die Justiz einzuleiten, war die Fotomontage aus den Justizakten verschwunden.
In einem schwerwiegenderen Fall wurde er auf dem Heimweg von vier Streifenwagen planmässig gestoppt, aus dem Auto gezerrt und bewusstlos geschlagen. Es war ein Racheakt
von Polizisten, wie das Gericht später feststellte, um ihm einen Denkzettel zu verpassen.
Klaus erlebte soviel Unrecht am eigenen Leib, dass ich im Film nicht alle Fälle dokumentieren konnte.
Schutz öffentlicher Ämter
Aufschlussreich ist noch ein Phänomen: Während Klaus halböffentliche Ämter innehatte, liess ihn die Polizei mehr oder weniger in Ruhe. Erst als er die Ämter ablegte und
sich ins Private zurückzog, wurde ihm ein Vorfall am 4. Juli 2008 wieder zum Verhängnis, als er den Polizeieinsatz bei einer Stadion-Besetzung durch Jugendliche fotografierte und erneut misshandelt
wurde. Danach suchte er seine Ruhe im ursprünglichen Herkunftsland und zog nach Budapest. Heute pendelt er – immer noch traumatisiert und manchmal reizbar - zwischen Budapest und Zürich.
Olga Majumder Rózsa
Schwester Olga Majumder Rózsa, geb. 7. Mai 1950 in Budapest
Leben im Namen der Toten
Ihren Namen erhielt Olga von einer Tante, die in Auschwitz vergast worden war. In ihrer Familie benannte man die Kinder nach den Verwandten, die den Holocaust nicht
überlebten. Sie war ebenfalls traumatisiert von einer Kindheit im Luftschutzkeller. Auch später noch hörte sie jeden Tag zu Hause das Wort Krieg, „Háború“, während die Eltern als ungarische
Flüchtlinge in der Schweiz kurzgehalten und zweimal aus pekuniären Gründen von ihren Kindern getrennt wurden. Sie mussten bei der Heilsarmee übernachten, während Olga und Klaus in ein Kinderheim
kamen.
Olga wurde 1972 als erste eingebürgert und konnte dadurch mit 16 Jahren nach Ungarn reisen, um ihre Verwandten zu besuchen. Viele dieser Verwandten lernte Klaus nicht
mehr kennen, da sie starben, bevor er zwanzig Jahre später, 1992, den ungarischen Pass erhielt und erstmals nach Budapest reisen konnte. Den Schweizer Pass erhielt Klaus erst im Jahr 2000 durch die
Heirat mit der damaligen Fernsehredaktorin Susann Wach.
Die Mutter starb früh an Krebs. Sie litt an den Spätfolgen eines im Januar 1945 erfolgten rechtsextremistischen Überfalls auf ihre Familie, die väterlicherseits
katholisch (Jurinkovits) und mütterlicherseits jüdisch (Rothschild) war. Als die Mutter, Livia Rózsa-Jurinkovits, starb, war Olga 20 und Klaus 16 Jahre alt.
Egon Rózsa-Jurinkovits
Egon Rózsa-Jurinkovits, geb. 1924 in Siebenbürgen, gest. 2013 in Zürich
Auschwitz und Dachau überlebt
Der Vater von Klaus und Olga wurde 1944 mit seiner Familie aus Ungarn nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er als kleiner Mann nur dank der Hilfe seines Vaters
(Grossvater von Klaus und Olga) überlebte, indem er beim Appell auf einen Backstein stand, um grösser und arbeitsfähig zu erscheinen. Nach neun Monaten, Ende Januar 1945, kam Egon Rózsa mit seinem
Vater nach Dachau, wo die beiden in den Bayerischen Motoren Werke BMW Zwangsarbeit leisten mussten. Im Mai 1945 wurden sie von den Amerikanern befreit. Anhand eines Fotos erzählt Egon Rózsa, dass von
den 13 darauf abgebildeten Familienmitgliedern zehn in Auschwitz vergast wurden.
Als Egon Rózsa nach einem langen Rechtsstreit in den 60er Jahren eine Wiedergutmachungsrente aus Deutschland bekam, konnte die Familie es sich leisten, Klaus in ein
deutsches Internat für ungarische Flüchtlingskinder zu schicken. Dort erlebte Klaus ein repressives Erziehungsregime und Körperstrafen.
Wegweiser zur Erinnerung
Dies kam allerdings erst zur Sprache, als Klaus mit seinem Vater das erste Mal nach Budapest fuhr. Als die beiden an einem Wegweiser nach Dachau vorbeikamen, meinte
Klaus etwas gedankenlos, was er, Egon, im Dachauer Konzentrationslager erlebt habe, sei wohl etwas Ähnliches gewesen wie das, was er im deutschen Internat erlebt habe. Da brach der Vater zusammen und
weinte. Klaus musste anhalten und ihn trösten. Auf der Weiterfahrt erzählte der Vater zum ersten Mal ausführlicher, was er in den Konzentrationslagern der Nazis erlebt hatte.
Franz Schumacher
Rechtsanwalt Franz Schumacher, Verteidiger von Klaus und SP-Politiker in den Zürcher Parlamenten
Der leidenschaftliche Gratisanwalt
Franz Schumacher hatte Klaus in Dutzenden Verfahren verteidigt, oft gratis. Einmal warf die Bezirksanwaltschaft Klaus vor, er habe eine Autoantenne abgebrochen, worauf
er wegen Sachbeschädigung verurteilt wurde. Franz Schumacher appellierte ans Obergericht, welches das Urteil bestätigte, worauf Schumacher Beschwerde beim kantonalen Kassationsgericht einreichte. Mit
Erfolg. Es kam zur Neubeurteilung vor Obergericht. Doch das Obergericht verurteilte ihn zum zweiten Mal. Nun zog Schumacher den Fall ans Bundesgericht. Klaus wurde nach sieben Jahren endgültig
freigesprochen. Danach wurde sein zweites Einbürgerungsgesuch mit der Begründung abgelehnt, er sei vorbestraft – trotz Freispruchs.
Treffende Analyse
Franz Schumacher analysiert die Biografie von Klaus mit folgenden Worten:
„Klaus war ein wunderbarer, mutiger Mensch. Ich erlebte dann seinen Vater, ein kleiner gebeugter Mann, wahnsinnig ängstlich wirkte er. Erst sehr viel später erfuhr ich,
dass er das Konzentrationslager überlebt hatte. Da dachte ich, dass sich Klaus anstelle seines Vaters gegen die Willkür besonders engagiert. – Der totalitäre Teil des Staates, den jeder Staat ein
Stück weit in sich hat – der machte ihn rasend. – Das hat damit zu tun, dass er gezeichnet war durch das Schicksal eines jüdischen Menschen im deutschen Konzentrationslager.“
Susann Wach Rózsa
Susann Wach Rózsa, Ehefrau von Klaus seit 1995, Fernsehredaktorin, heute Lehrerin
Ungarisch gelernt
Durch die Heirat im Jahr 1995 mit Susann Wach erhielt Klaus den Schweizerpass, jedoch erst nach Ablauf der damals maximalen Bewährungsfrist von fünf Jahren für
Eheschliessungen mit Nichtschweizern. Den Pass brachte der Postbote am 24. Dezember 2000, am Heiligen Abend, per Nachnahme wie ein Geschenk, für das man bezahlen musste.
Susann Wach Rózsa wanderte, nachdem sie das Schweizer Fernsehen verliess, mit Klaus nach Budapest aus, wo sie zunächst in einer kleinen Wohnung von Egon Rózsa wohnten,
bis sie eine eigene grössere Wohnung erwarben. Susann Wach Rózsa spricht fliessend Ungarisch.
In den Ferien Verhaftung erlebt
Als sie mit Klaus zum ersten Mal von ihrem neuen Wohnort, also von Budapest nach Zürich in die Ferien fuhren, gerieten sie am 4. Juli 2008 in eine Polizeisperre beim
Zürcher Hardturm-Fussballstadion. Jugendliche protestierten mit einer Besetzung des seit Jahren brachliegenden Geländes gegen die Kommerzialisierung des Public Viewing bei den damaligen
Europameisterschaften. Klaus hielt den Wagen an, nahm seine Kamera und fotografierte den Polizeieinsatz, bei dem vier Polizisten mit Gummigeschossen und Schlagstöcken mit aller Härte gegen die
Besetzer vorgingen.
Als ein Polizist ihn erkannte und rief: „Rózsa, du Sauhund, hier wird nicht fotografiert!“ zog sich Klaus zurück, wurde aber vom Polizisten eingeholt und zu Boden
gerissen. klaus konnte gerade noch seinen Fotoapparat Susann übergeben und sagte, sie solle abdrücken und dokumentieren, was da geschehe. Susann fotografierte, wie Klaus vor ihren Augen von den
Polizisten malträtiert wurde, wie ihn die Beamten würgten, ihm die Brennnessel machten, das Gilet über den Kopf zogen, ihm den Schlüsselanhänger vom Hals rissen, ihn zu Boden drückten und ihn eine
halbe Stunde lang quälten. Diese Fotos sieht man im Film.
Trübe Justizerfahrungen
Klaus klagte die Polizisten an wegen Körperverletzung, worauf die Polizisten aussagten, Klaus habe sie während der Festnahme als „Nazi“ beschimpft. Innerhalb eines
Jahres wurde Klaus durch alle Instanzen hindurch verurteilt wegen Beschimpfung. Sein Verfahren gegen die Polizisten wurde eingestellt, nach Berufung wieder aufgenommen, dann acht Jahre lang
verschleppt. Irgendwann dürfte die absolute Verjährung eintreten.
Drei Jahre lang wartete die Staatsanwaltschaft, bis sie Susann Wach Rózsa erstmals als Zeugin aufbot, um auszusagen. Im Kontext dieses Verfahrens war es offensichtlich,
dass die Justiz so lange zuwartete, bis in der Erinnerung der Zeugin Lücken in Details entstanden, um die Zeugin auf diese Weise leichter in kleinere Widersprüche zu verwickeln und unglaubwürdig zu
machen. Zudem musste Susann im Beisein der misshandelnden Polizisten aussagen, welche während der Befragung ständig grinsten. „Sie wussten ganz genau, dass ihnen nichts passieren kann“, sagt Susann
im Film.
Sie hatte – betrachtet man die ganze Geschichte von Klaus – nur ein Beispiel erlebt, wie die Justiz seit Jahrzehnten mit ihrem Ehemann umgegangen ist. Klaus wollte,
dass sie ebenfalls Klage gegen die Polizisten erhebt, weil auch sie Tätlichkeiten abbekommen hatte. Doch angesichts ihrer ersten derartigen Erfahrungen mit der Justiz verzichtete sie darauf.